[17.11.2020] Berliner
Senat beschließt, gegen das verweigerte Einvernehmen des
Bundesinnenministeriums zu klagen. Mehr lesen in der Pressemitteilung der Berliner Senatskanzlei.
[07.08.2020] Auch Berlin
und Bremen haben inzwischen Landesaufnahmeanordnungen erlassen. Seehofer verweigert Einvernehmen des Bundesinnenministeriums für die
Landesaufnahmeanordnungen.
[02.06.2020] Thüringer
Kabinett beschließt Landesaufnahmeanordnung. Mehr lesen: Presseinfo des Thüringer Ministeriums für Migration, Justiz und
Verbraucherschutz.
[05.05.2020] Vor
vier Wochen wandten sich Politiker*innen von #r2g #Thüringen mit einem offenen
Brief an die Landesregierung und forderten "#SaveThemAll!". Am 28.04.
wurde das Thema im Thüringer Kabinett erörtert, in der heutigen
Kabinettssitzung sollte abschließend beraten werden. Heute nun schreibt
die @TAOnline, in der Koalition bestehe noch keine Einigkeit zu dem Vorschlag
des Migrationsministers @gruenerDirk), 500 Geflüchtete (in einem ersten Schritt
in 2020 50) aus den miserablen Lagern auf den griechischen HotSpots
herauszuholen. Vor allem seien, so moniere die SPD, weder die Kosten noch die
Unterbringung geklärt.
Gleich drei
Informationen, die mich irritieren:
1. Die Anzahl
der Personen. „Bis zu 500“ halte ich, angesichts der humanitären Lage, für zu
wenig. Noch vor 2 Wochen sprach die LINKE Landesvorsitzende von 1500 bis 2000
Menschen, die Thüringen aufnehmen könnte. Ich halte diese Zahl für realistisch,
werden doch derzeit meines Wissens keine Geflüchteten über den Königsteiner
Schlüssel nach Thüringen „verteilt“ und sind somit Kapazitäten ungenutzt.
2. Weder die
Kosten noch die Unterbringung seien geklärt. Es scheint, als haben die
Zuständigen ihre Hausaufgaben nicht gemacht: Es gibt (auch in Liegenschaften,
die seit 2015 zur Flüchtlingsaufnahme ertüchtigt wurden) freie und in kurzer
Zeit wieder reaktivierbare Unterkunftsplätze. Das könnte der SPD bekannt sein
und hätte vom TMMJV einfach schlüssig aufgeschrieben werden können. Die (ein
Großteil der) Kosten: Im Etat des TMMJV stehen finanzielle Mittel für die
Flüchtlingsaufnahme bereit, die verwendet werden könnten. Auch das TMBJS
verfügt über Haushaltsmittel, die für minderjährige Geflüchtete eingesetzt
werden können.
3. "In
einem ersten Schritt sollen dieses Jahr 50 Menschen nach Thüringen kommen“ wird
der aktuellen Situation nicht gerecht: Corona wartet nicht bis nextes Jahr. Die
Menschen müssen dort JETZT weg, raus aus den miserablen hygienischen Zuständen,
raus aus der Enge, in der „Abstand halten“ nicht möglich ist, raus aus
überfüllten Lagern ohne medizinische Versorgung oder Unterstützung durch NGOs,
die derzeit auch mehr und mehr aus den Camps gedrängt werden – wegen COVID-19.
In einem Kommentar
„Richtig helfen“ schreibt ein Journalist in der TA, es sei „richtig, wenn sich
die rot-rot-grüne Koalition grundsätzlich dazu bereit erklärt, Frauen und
Kinder von den griechischen Inseln aufzunehmen“, jedoch sei das Mittel
Landesaufnahmeanordnung fraglich. Die Landesregierung könne ohne Kooperation
des Bundes „herzlich wenig ausrichten“.
Herr Debes weiß
vielleicht nicht, dass für die Landesaufnahmeanordnung nach § 23 Absatz 1 des
Aufenthaltsgesetzes das Einvernehmen des Bundesinnenministeriums vonnöten ist.
Und dass ganz deutlich im Gesetz steht, dass dieses lediglich ausgeschlossen
ist, wenn die Bundeseinheitlichkeit der Rechtsausübung durch die
Landesaufnahmeanordnung gefährdet wäre. Das wäre sie aber nicht: die
Landesregierung hält sich mit einer solchen Verordnung und die dadurch
ermöglichten Aufenthaltserlaubnisse an alle geltenden aufenthaltsrechtlichen
Regelungen (wie auch schon 2019 Schleswig-Holstein mit seiner
Landesaufnahmeanordnung für bis zu 500 besonders schutzbedürftige Geflüchtete
aus Ägypten und Äthiopien). Und das Visumverfahren kann, sobald die
Landesaufnahmeanordnung in Kraft treten kann, durchgeführt werden.
Dass, weil
„Rechtsgutachten und Klagedrohungen kaum helfen“ und die
Landesaufnahmeanordnung deshalb eine „regionale Schaufensterinitiative für die eigene
Parteiklientel“, „nicht nur überflüssig“ sei und „dem berechtigten Anliegen“
schade, verkennt gleich mehreres: die Klagedrohung könnte den Bund endlich
bewegen (selbst Entwicklungsminister Müller, CSU, erkennt inzwischen an, dass
es sich bei der Lage in Moria um eine „Schande mitten in Europa“ handelt und
nicht nur einigen Kindern, sondern allen Menschen in den Flüchtlingslagern
geholfen werden müsse. Rheinische Post, 05.05.2020: https://www.presseportal.de/pm/30621/4587817). Die Klage dürfte nicht nur angedroht werden, das
Einvernehmen muss rechtlich erstritten bzw. mindestens der Versuch dazu
unternommen werden – das fordern auch die Verfasser*innen des eingangs
erwähnten offenen Briefes. Die Landesaufnahmeanordnung könnte auch andere
Landesregierungen, wie etwa die in Berlin, Bremen, Schleswig-Holstein, zu
eigenen Landesinitiativen bewegen. Eine regionale Schaufensterinitiative ist
dies nicht. (Und nicht zuletzt stellt diese Auffassung von Herrn Debes den § 23
Absatz 1 Aufenthaltsgesetz insgesamt infrage, der bislang der obersten
Landesbehörde die Kompetenz zugesteht, aus humanitären oder völkerrechtlichen
Gründen oder Bundesinteressen eine solche Verordnung zu erlassen. Diese
Regelung wäre Makulatur, interpretierte man ihn so, wie Herr Debes das tut.)
Was mich derzeit außerdem
irritiert: dass öffentlich kaum etwas zu bemerken ist von einer Kooperation der
‚willigen‘ Bundesländer. Ja: man bezieht sich aufeinander in den Bekräftigungen
der Aufnahmebereitschaft, wenn es um unbegleitete Minderjährige geht.
Gelegentlich ist zu lesen, wenn ein Bundesland voranginge, würde sich ein
anderes daran orientieren.
Ich wünschte mir, dass
sich die Landesregierungen bzw. Regierungskoalitionen über diese wohlfeilen
Worte hinaus (denn Anschreiben an den Bundesinnenminister allein sind nicht
viel mehr als das) um eine Lösung für die Menschen bemühen. Und dass die für
Flüchtlingspolitik in diesen Koalitionen zuständigen Politiker*innen sich in
diesen Fragen deutlich bemerkbar machten.
Landesaufnahmeanordnung
JETZT! Nicht länger abwarten.
[19.04.2020] Solange
die Bundesregierung nicht aktiv wird, die Menschen aus ihrer prekären Lage
(überfüllte Lager, miserable hygienische Zustände, nicht genügen Wasser,
medizinische Versorgung etc.) herauszuholen, sind die Bundesländer gefragt und
gefordert. Insbesondere an die rot-rot-grünen Landesregierungen in Berlin,
Thüringen und Bremen gibt es die Erwartung, dass sie Solidarität praktisch
werden lassen. (Text als pdf-Dokument)
„Die europäische
Idee von sozialer Gerechtigkeit, Humanismus und internationaler Solidarität
kann sich nur verwirklichen, wenn Europa und seine Mitgliedsländer ihrer
Verantwortung für Schutzsuchende gerecht werden. … Die Bundesrepublik als Teil
der europäischen Union – und der Freistaat Thüringen als Teil der
Bundesrepublik Deutschland – sind in der Verpflichtung, humanitär initiativ zu
werden …“, dies beschloss der Thüringer Landtag mit Blick auf aus Seenot
gerettete Menschen bereits im September 2019.
Angesichts des sich
ausbreitenden Corona-Virus droht in den überfüllten Flüchtlingscamps in den
griechischen Hotspots eine humanitäre Katastrophe. Die Verpflichtung, humanitär
initiativ zu werden, wird mit jedem Tag dringender.
Solange die
Bundesregierung nicht aktiv wird, die Menschen aus ihrer prekären Lage (überfüllte
Lager, miserable hygienische Zustände, nicht genügen Wasser, medizinische
Versorgung etc.) herauszuholen, sind die Bundesländer gefragt und gefordert.
Insbesondere an die rot-rot-grünen Landesregierungen in Berlin, Thüringen und
Bremen gibt es die Erwartung, dass sie Solidarität praktisch werden lassen.
„Wann beschließen Berlin
& Thüringen endlich eigene Evakuierungen?“ twitterte @_Seebruecke_ am 14. April. Offenbar hat noch keines der Bundesländer
mit einer Landesaufnahmeanordnung das Bundesinnenministerium um das
Einvernehmen zur Aufnahme Geflüchteter aus den griechischen Hotspots ersucht.
Der Thüringer
Migrationsminister Dirk Adams ließ sich am 13. April mit „Notfalls werde
Thüringen aber dem Beispiel von Berlin folgen und ein Landesprogramm zur Aufnahme
von Kindern und Jugendlichen aus den Flüchtlingslagern in Griechenland
auflegen.“ Zitieren. Er setze aber weiterhin „zunächst auf den Bund.“ Das Land
habe sich „an das Bundesinnenministerium gewandt und seine Bereitschaft zur
Aufnahme unbegleiteter Minderjähriger erklärt. Zudem liefen Vorarbeiten für ein
mögliches Aufnahmeprogramm des Landes.“
„Notfalls“ reicht aber nicht. Denn es ist offensichtlich, dass der Bund von
selbst - ohne Druck aus den Ländern - nichts für #SaveThemAll tun wird. Eine
„Bereitschaftserklärung“ macht keinen „Druck“. Deshalb drängt es, jetzt eine
Landesaufnahmeanordnung zu beschließen und dafür das Einvernehmen des
Bundesinnenministeriums (schnell) zu ersuchen. Noch länger abzuwarten,
bedeutete eine immer schlimmer werdende Situation für die betroffenen Menschen
und die immer akuter werdende Gefahr von Infektionen und einer Ausbreitung der
Epidemie in den Flüchtlingslagern, die für viele Menschen dort tödlich enden
könnte.
Konkrete Schritte bzw.
einen zweistufigen Aktionsplan haben Gesundheitsforscher (u.a. der Bielefelder
Uni) bereits im März in einem offenen Brief vorgeschlagen:
- In einem ersten Schritt den Ausbau von Kapazitäten auf dem griechischen
Festland (laut einem Gastbeitrag von John Dalhuisen – früherer Europadirektor
von Amnesty International - und Gerald Knaus – Vorsitzender der Denkfabrik
"Europäischen Stabilitätsinitiative" - im Spiegel vom 26.03.2020 baut die
Internationale Organisation für Migration (IOM) dort derzeit drei Lager für
einige Tausend Migranten, weitere 5 provisorische Lager könnten innerhalb
von 2 Wochen aufgebaut werden, außerdem könnten nicht ausgelastete Hotels
genutzt werden. Für diese sollte es nach Vorschlag der Wissenschaftler*innen
symptomatische Screenings vor der Abreise und Unterbringung (unter
Quarantänebedingungen) für diejenigen, die nicht reisefähig sind, geben.
- Für die Evakuierung in EU-Länder (2. Stufe): Ausreichender Schutz während der
Reise, Quarantänebedingungen und Gesundheitsschutzmaßnahmen bei der Ankunft.
Dort dann tägliches symptomatisches Screening und strikte Quarantäne. Je früher
mit der Evakuierung begonnen werde, desto geringer die erforderlichen
Quarantänekapazitäten.
Das Mittel, das die
bundesdeutsche Gesetzgebung bietet, ist die Landesaufnahmeanordnung nach § 23
Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes:
„(1) Die oberste
Landesbehörde kann aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur
Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass
Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten
Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Die Anordnung kann
unter der Maßgabe erfolgen, dass eine Verpflichtungserklärung nach § 68
abgegeben wird. Zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit bedarf die Anordnung des
Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern. …“
Für die praktische
Umsetzung dieses Instruments können sich die Landesregierungen auf diverse
rechtsgutachterliche Stellungnahmen stützen:
-
Helene Heuser (Fakultät für Rechtswissenschaft der
Universität Hamburg): „Rechtsgutachten zur Zulässigkeit der Aufnahme von
Schutzsuchenden durch die Bundesländer aus EU-Mitgliedstaaten“,
https://www.jura.uni-hamburg.de/lehrprojekte/law-clinics/refugee-law-clinic/forschungsprojekt-staedte-der-zuflucht/gutachten-landesaufnahme.pdf
(leicht gekürzt veröffentlicht von der Rosa-Luxemburg-Stiftung im März 2020:
https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/rls_papers/Papers_2-20_Schutzsuchende.pdf)
-
Sozietät Redeker, Sellner, Dahs: „Aufnahme von Flüchtenden aus den Lagern auf den griechischen
Inseln durch die deutschen Bundesländer-Rechtliche Voraussetzungen und
Grenzen“,
https://www.nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2020/03/2020-03-06-Gutachten-L%C3%A4nderkompetenzen-humanit%C3%A4re-Aufnahme-Griechenland-fin.pdf
(Fragestellung zur Landesaufnahme insbesondere von unbegleiteten Kindern bzw.
Kindern und ihren Müttern)
Auch der
Wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestages hat sich in verschiedenen
Analysen mit Fragen der Aufnahme Schutzbedürftiger auseinandergesetzt:
-
WD-BT, 2-3000-106/17, Inhalt der völkerrechtlichen
Verpflichtung zur Seenotrettung, 20.11.2017,
www.bundestag.de/resource/blob/535236/262c8b171d4d88f9710a25df757194b5/wd-2-106-17-pdf-data.pdf,
sowie
-
WD-BT, 3-3000-223/18, Aufnahmeprogramme der Länder
nach § 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz, 27.6.2018,
www.bundestag.de/resource/blob/568226/f4ff4bfb8e0cb4a5848ffa1603badcec/WD-3-223-18-pdf-data.pdf
(zugegriffen am 19.4.2020).
Anhand der Rechtsgutachten (ich stütze mich
insbesondere auf das Gutachten von Helene Heuser, Ass jur, MA phil) versuche
ich im Folgenden eine Zusammenfassung wichtiger Punkte.
Anforderungen an Landesaufnahmeanordnungen nach § 23
AufenthG:
Eine
Landesaufnahmeanordnung muss insbesondere die Personengruppe der Aufzunehmenden
möglichst konkret beschreiben. Meines Erachtens geht es zunächst darum,
besonders schutzbedürftige Personen aus den Hotspots zu holen: Kinder und
Jugendliche, Familien mit Kindern, auch die älteren (nicht mehr minderjährigen)
Geschwister, Schwangere, Alte, Kranke, Verletzte, Traumatisierte.
Man könnte/sollte noch
den Thüringenbezug (in Thüringen lebende Angehörige) und Leute mit Dublinbezug
(die nach DublinVO schon hätten legal einreisen können, da sie die nun
eingetretene Verfristung nicht selbst verschuldet haben), ebenso Menschen, die
aus Seenot gerettet werden, benennen (die Berliner Landesregierung den
Berlin-Bezug, Bremen den Bremen-Bezug usw.).
Wie viele Menschen sollen / können aus diesen
menschenunwürdigen Lagern gerettet werden?
Die Länder sollten -
anders als die Bundesregierung, die aktuell gerade nach wochenlangem Aussitzen
eine lächerlich geringe Zahl von nur 47 unbegleiteten Minderjährigen
aufgenommen hat und insgesamt von nur 1000 bis 1500 aufzunehmenden unbegleiteten
Minderjährigen spricht - die Zahlen anhand ihrer Aufnahmekapazitäten
(leerstehende Gemeinschaftsunterkünfte, Jugendherbergen, Hotels etc.)
festlegen. Und ihre Kapazitäten auch ausschöpfen. Die Vorsitzende der Thüringer
LINKEN sprach am 17.04.2020 in einer Facebook-Liveschalte von 1500 bis 2000
Menschen, die Thüringen ihrer Auffassung nach aufnehmen kann.
Was ist bei einer Anordnung ebenfalls zu beachten?
Da für die
Landesaufnahmeanordnung das Einvernehmen (also die Zustimmung) des Bundesinnenministeriums
notwendig ist, sollte die Verordnung die in § 23 (1) Aufenthaltsgesetz
genannten „völkerrechtlichen oder humanitären Gründe(n)“ bzw. die
„politische(n) Interessen der Bundesrepublik Deutschland“, die mit der
Landesaufnahmeanordnung gewahrt werden sollen, konkret beschreiben.
Eine Verweigerung des
Einvernehmens müsste das BIM begründen. Nach dem Wortlaut des § 23 kommt für
eine Ablehnung allerdings lediglich die Gefährdung der Bundeseinheitlichkeit
infrage. „Bundeseinheitlichkeit“ kann allerdings nicht bedeuten, dass alle
Bundesländer Landesaufnahmeanordnungen erlassen müssen – eine solche Auslegung
führte die Regelung („Die oberste Landesbehörde kann …“) ad absurdum.
Völkerrechtliche Gründe
ergeben sich aus
internationalen Flüchtlingsrechten, wie etwa dem Gebot des non-refoulement (Grundsatz der Nichtzurückweisung ) für aus Seenot
Gerettete, der Genfer
Flüchtlingskonvention, die etwa den Zugang zu medizinischer Versorgung,
Bildung und Sozialleistungen als Flüchtlingsrechte, zum Flüchtlingsschutz verbürgt,
der Europäischen
Menschenrechtskonvention mit dem Recht auf Leben in Artikel 2, dem Recht
auf Gesundheit in Artikel 12 und weiteren sozialen Menschenrechten sowie aus
dem EU-Solidarprinzip, das gemäß Artikel 80 AEUV die Verantwortungsteilung für
Schutzsuchende zwischen den Mitgliedstaaten beschreibt.
Helene Heuser weist zu
Recht darauf hin, dass die völkerrechtlichen Dokumente keine Verpflichtungen –
die in zwischenstaatliche Verträge gegossen sind, dies lehnten die
Nationalstaaten regelmäßig ab – enthalten. Jedoch: „Die Bundesländer könnten
sich für die Aufnahme aber dennoch auf die oben genannten Rechtsvorschriften
und andere völkerrechtliche Gründe beziehen. Nach dem Sinn und Zweck des § 23
Abs. 1 AufenthG als weitgehende Ermessensnorm für die Länder, nach dessen
Wortlaut und nach der Gesetzessystematik ist eine völkerrechtliche Pflicht zur
Aufnahme keine Voraussetzung“ (für eine Landesaufnahmeanordnung).
Humanitäre Gründe
liegen vor, „wenn der
Einsatz zugunsten anderer Menschen, die sich in Not oder Bedrängnis befinden,
auf moralischen oder sittlichen Überlegungen oder auf einer
menschenfreundlichen Haltung beruht, ohne dass eine rechtliche Verpflichtung zu
Grunde liegen muss.“ Frau Heuser zitiert hier den Duden: „Alshumanitär gilt
eine Handlung, die ‚auf die Linderung menschlicher Not bedacht ist‘.
Zwar sei für eine
Landesaufnahmeanordnung kein ‚dringender‘ humanitärer Grund (wie in der
Vorschrift für einzelne humanitäre Visa, § 22 AufenthG) erforderlich, jedoch
werde ein Nachteil (Schwere der Rechtsgutbeeinträchtigung) von gewissem Gewicht
verlangt, folgert Heuser aus der Literatur. Dieser Nachteil „von gewissem
Gewicht“ liegt für die in den widrigen Umständen der Lager Lebenden zweifellos
vor – ohne ausreichend Wasser für minimale Hygienestandards, ohne die
Möglichkeit, Abstand zu halten, ohne Zugang zu ärztlicher Versorgung,
Quarantänemöglichkeiten etc. Die Bewohner*innen des Lagers in Moria haben die
Zustände eindrücklich beschrieben: „Dringender Hilferuf aus dem Moria Camp in Zeiten von Corona“.
Als Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland
könnte die
Landesregierung die Stärkung des humanistischen Selbst- und Außenbildes der
Bundesrepublik sowie die Förderung der Solidarität innerhalb der EU angeben,
daneben das Selbstverständnis einer offenen, aufnahmebereiten und dem
Menschenrechtsschutz verpflichteten Gesellschaft anführen, so Heuser.
Jedenfalls sind keine
entgegenstehenden Interessen des Bundes oder der anderen Länder ersichtlich,
hinter denen die politische Entscheidung für eine Landesaufnahmeanordnung
zurückstehen müsste.
Die Bundeseinheitlichkeit
der Rechtsausübung wäre – sofern die Landesaufnahmeanordnung nicht
außenpolitische Belange des Bundes bzw. die Bundeskompetenzen zur Pflege der
auswärtigen Beziehungen verletzt - laut Heuser der einzige Grund, weswegen das
Bundesinnenministerium das Einvernehmen (begründet und verfassungskonform)
verweigern kann. Diese – die bundeseinheitliche Rechtsausübung - wäre jedoch
nur gefährdet, enthielte die Landesaufnahmeanordnung von aufenthaltsrechtlichen
Regelungen – wie etwa der Wohnsitznahmepflicht in § 12a AufenthG – abweichende
Regelungen. Oder, so formulieren es Redeker, Sellner, Dahs: „Der Bund … muss
nachweisen, dass ohne sein Eingreifen eine nicht hinnehmbare Rechtszersplitterung
droht.“
Was passiert, wenn der Bund das Einvernehmen
verweigert?
Im Falle der Ablehnung
der Landesaufnahmeanordnung bzw. der Verweigerung der Zustimmung durch das BIM
stünde der Weg über ein Bund-Länder-Streitverfahren beim Bundesverwaltungsgericht
und / oder dem Bundesverfassungsgericht offen.
Beim Bundesverwaltungsgericht ist (laut Heuser) die „statthafte Klageart … die
allgemeine Leistungsklage … Das Rechtsschutzbedürfnis und die Klagebefugnis
resultiert aus der Befugnis der obersten Landesbehörde gem. § 23 Abs. 1 S. 1
AufenthG eine Aufnahmeanordnung zu erlassen. Mit einer rechtswidrigen
Verweigerung des Einvernehmens durch das BMI wird dieses Recht verletzt.“
Hält das
Bundesverwaltungsgericht selbst „die Entscheidung für verfassungsrechtlich, so
legt es gem. § 50 Abs. 3 VwGO die Sache pflichtgemäß dem
Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor.“
Drei andere Wege zum
Bundesverfassungsgericht stehen dem Bundesland selbst zur Verfügung:
-Die Feststellung,
„welchen Umfang das Einvernehmenserfordernis mit dem BMI gem. § 23 Abs. 1 S. 3
AufenthG aufgrund von Verfassungsrecht, etwa dem verfassungsrechtlichen
Rücksichtnahmegebot oder den verfassungsrechtlichen Bundeskompetenzen gem. Art.
23 und Art. 32 GG bzw. den Landeskompetenzen gem. Art. 30, Art. 70 ff. und Art.
83 ff. GG hat."
- Die Feststellung,„dass
der Bund bei der Ausführung des § 23 Abs. 1 AufenthG durch das Land im
konkreten Fall verpflichtet war, das Einvernehmen zu erteilen und mit der
Ablehnung gegen die Eigenverwaltungskompetenz des Landes verstoßen hat.“
- Die abstrakte
Normenkontrolle hinsichtlich der „Vereinbarkeit von § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG
und ggf.§ 105 AufenthG mit dem Prinzip der Landeseigenverwaltung gem. Art. 30,
Art. 83ff. GG …“
Meiner Auffassung nach kommt
in der aktuellen Situation lediglich der zweitgenannte Weg (feststellen zu
lassen, dass bzw. ob der Bund verpflichtet war, das Einvernehmen zu
erteilen) infrage. Diesen jedoch sollten die „willigen“ Länder gehen, falls das
BIM das Einvernehmen verweigert.
Erster und dringendster
Schritt jedoch: es müssen jetzt Landesaufnahmeanordnungen erlassen und dem Bund
zugeleitet werden. Die Menschen auf Chios, Kos, Leros, Lesbos und Samos
brauchen Schutz und müssen dort weg bzw. aus den widrigen Bedingungen heraus.
#WirhabenPlatz.
(Text als pdf-Dokument)
[05.04.2020] Thüringer Politiker*innen
fordern Landesaufnahme-Anordnung für Geflüchtete aus Griechenlands Lagern. Dort
droht auch angesichts des sich ausbreitenden Corona-Virus eine humanitäre
Katastrophe.
Offener
Brief:
An den
Thüringer Minister für Migration, Justiz und Verbraucher*innenschutz, Dirk
Adams
und die weiteren Mitglieder der Thüringer Landesregierung
Save them
all!
Seit
Monaten ist die unmenschliche Situation der Geflüchteten in Griechenland
bekannt – katastrophale hygienische Zustände, die medizinische Versorgung,
Lebensmittelknappheit, Unterkünfte… Trotz einer am 08. März 2020 getroffenen
Vereinbarung auf Bundesebene zur Aufnahme von 1.500 unbegleiteten minderjährigen
Kindern gibt es bis heute keinerlei Maßnahmen, die diese Vereinbarung in die
Tat umsetzen. Doch es sind nicht nur die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen,
die von den menschenunwürdigen Zuständen in den griechischen Lagern betroffen
sind. Es sind ebenso Frauen, Männer, Familien, ältere Personen – alle
Geflüchteten, die in dieser verheerenden Lage ausharren. Dort droht auch
angesichts des sich ausbreitenden Corona-Virus eine humanitäre Katastrophe.
Seit Wochen wird auf die Zuständigkeit des Bundes und dessen Blockadehaltung
verwiesen. Wir wissen mittlerweile, dass der Bund nicht zügig handeln wird. Die
erkennbare Verzögerungs- und Verhinderungstaktik fordert am Ende Menschenleben.
Wir können und wollen diese Zustände nicht mehr hinnehmen. Wir können und
wollen nicht länger zuschauen, wie die Situation weiter eskaliert.
Wir
fordern: Es muss endlich gehandelt werden!
Wir wissen,
dass es in Thüringen den politischen Willen gibt, Geflüchtete über die bereits
vereinbarten Regelungen mit dem Bund hinaus aufzunehmen. Wir unterstützen dies
ausdrücklich.
Wir
unterstützen, dass das Thüringer Ministerium für Justiz, Migration und
Verbraucherschutz Maßnahmen ergreift, um den Geflüchteten in Griechenland zu
helfen und sie aus dieser Situation herauszuholen. Wir verweisen auf
entsprechende Rechtsgutachten (Redeker, Sellner, DAHS vom 05.03.2020, https://bit.ly/2R8R1OB / Rosa Luxemburg Stiftung aus März
2020, https://bit.ly/2JymSnB): Aus diesen geht eindeutig hervor,
dass Bundesländer eigenständig agieren können, um Schutzsuchende aufzunehmen.
Das Bundesministerium des Inneren widersprach dem Rechtsgutachten der Kanzlei
Redeker in einem Schreiben vom 02. April 2020. Das BMI erklärte, der Bund habe
von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht, weshalb die Länder
keinerlei Kompetenz hätten. Dieses Schreiben negiert jedoch, dass § 23 Absatz 1
Aufenthaltsgesetz ausdrücklich eine Entscheidungskompetenz der Länder normiert,
"bestimmten Ausländergruppen" "aus humanitären Gründen"
eine Aufenthaltserlaubnis zu gewähren bzw. ihre Aufnahme anzuordnen.
Wir
unterstützen die zuständigen Ministerien, allen voran das Thüringer Ministerium
für Justiz, Migration und Verbraucherschutz bei der Umsetzung folgender, jetzt
notwendiger Schritte:
-
entsprechend des Koalitionsvertrages öffentlich und nachdrücklich Position
gegenüber dem Bund zu ergreifen und deutlich die Haltung gegenüber dem
Bundesinnenministerium zu vertreten: „Wir holen Menschen jetzt nach Thüringen“
- schnellstmöglich ein entsprechendes Landesaufnahmeprogramm auf Basis einer
Landesaufnahmeanordnung zu erstellen, auf dessen Grundlage Thüringen aktiv
werden kann, um Schutzsuchenden aus Griechenland Schutz zu bieten
- zur Vorbereitung der Aufnahme mit Landesregierungen, die ebenfalls die
Aufnahme Geflüchteter aus Griechenland diskutieren (z.B. Berlin), eine
Verständigung über die Personengruppe, Anzahl, Aufnahmebedingungen und
gegenseitige Unterstützung etc. zu suchen
- Kontakt zu Behörden und NGOs in Deutschland sowie in Griechenland
aufzunehmen, um konkrete Absprachen und Maßnahmen zu treffen und zu vereinbaren
– mit dem Ziel, schutzsuchende Menschen von Griechenland nach Thüringen zu
holen
- Kontakt zum Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen herzustellen, um mit
ihm über die katastrophalen Zustände auf den griechischen Inseln zu sprechen
und Unterstützungsmöglichkeiten des UNHCR auszuloten
- Kontakt zu auch in Deutschland aktiven NGOs aufzunehmen und deren Kompetenzen
mit einzubeziehen, auch um in Thüringen entsprechende Vorbereitungen für die
Aufnahme zu treffen
Wir
erwarten, dass der Bund dabei weder dem Land Thüringen noch weiteren
Bundesländern und aufnahmewilligen Kommunen Hürden in den Weg legt, sondern den
Willen von Landesaufnahmeprogrammen unterstützt. Wir werden das entsprechende
Vorgehen Thüringens mit all unseren Möglichkeiten unterstützen.
Bereits im
September 2019 hat sich der Thüringer Landtag zum Osterappell von mehr als 200
Mitgliedern des 19. Deutschen Bundestages und zur Initiative "Seebrücke -
schafft sichere Häfen!" sowie zur Verantwortung des Freistaats Thüringen
bekannt: „Die europäische Idee von sozialer Gerechtigkeit, Humanismus und
internationaler Solidarität kann sich nur verwirklichen, wenn Europa und seine
Mitgliedsländer ihrer Verantwortung für Schutzsuchende gerecht werden. (…) Die
Bundesrepublik als Teil der europäischen Union – und der Freistaat Thüringen
als Teil der Bundesrepublik Deutschland – sind in der Verpflichtung, humanitär
initiativ zu werden (…)“ (Landtagsbeschluss 13.09.2019, Drucksache 6/7742).
Diese Verantwortung gilt jetzt - angesichts einer sich zur Pandemie
ausbreitenden Epidemie, die die Menschen in den Lagern bedroht - erst recht.
Wir wissen,
es ist schwierig oder – so die Aussage einiger – unmöglich, ohne Zustimmung des
Bundes Geflüchtete aus Griechenland zu holen. Wir wollen und werden
unterstützen, dass auch scheinbar Unmögliches versucht wird, alle rechtlichen
Möglichkeiten ausgeschöpft sowie unkonventionelle Wege gegangen werden, um
Menschen zu retten und ihnen ein würdiges Leben zu ermöglichen.
Wir haben Platz.
---
Unterzeichner*innen
Patrick Beier, MdL
Sabine Berninger
Sascha Bilay
Steffen Dittes
Cordula Eger
Kati Engel
Lena Saniye Güngör, MdL
Thomas Hartung
Madeleine Henfling
Katharina König-Preuss
Diana Lehmann
Dorothea Marx
Katja Maurer
Anja Müller
Ralf Plötner
Astrid Rothe-Beinlich
Christian Schaft
Laura Wahl
Philipp Weltzien
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